Meine Mutter in China (de)
Author: Binfried Weidemann
Ich wurde auf dem Land im Nordwesten Chinas geboren, mein Heimatdorf liegt direkt am Ufer des Gelben Flusses, der auch “Mutter Fluss” genannt wird. Von klein auf trank ich Wasser aus dem Gelben Fluss. Damals war das Wasser oft klar und durchsichtig, egal ob Sommer oder Winter. Die Erwachsenen schöpften das Wasser aus den Flussbuchten und schütteten es in große Tonnen, um es direkt zu trinken. Manchmal war das Flusswasser trüb und voller gelbem Schlamm. In diesem Fall musste man etwas Salz ins Wasser geben, es ein oder zwei Stunden absetzen lassen und dann erst in die Trinkbehälter füllen. Meine Schwestern und ich wurden älter und mussten die Aufgabe übernehmen, Wasser vom Fluss zu holen, also gingen wir oft zusammen ans Ufer, um Wasser zu schöpfen.
Wir hatten aber keine richtige Schulterstange, also verwendeten wir einen Holzstamm, der etwa so dick war wie ein Unterarm. Dieser Stamm wurde unser Ersatz für eine Trage. An einem Ende des Stamms gab es eine natürliche Kerbe, und wenn meine Schwester und ich das Wasser trugen, hielt ich die Eimer so, dass sie nicht über die Kerbe hinausrutschten, um meiner Schwester das Tragen zu erleichtern. Im Laufe der Zeit gewöhnte sich meine Schulter an den Holzstamm. Einmal, als ich eine normale Schulterstange benutzte, stellte ich fest, dass meine Schulter schrecklich schmerzte und ich ständig Pausen einlegen musste. Alles wegen dieses verdammten Holzstamms!
Teil 1
Als ich in die Mittelschule ging, mussten meine Klassenkameraden und ich abwechselnd das Klassenzimmer reinigen. Meine Schule lag auf einer Hochfläche aus gelber Erde, und mitten durch das Gelände verlief ein Hauptwasserkanal. Während der landwirtschaftlichen Bewässerungssaison konnten wir Wasser aus dem Kanal schöpfen, was weniger anstrengend war. Doch oft war der Kanal trocken, und wir mussten zum Fluss, um Wasser zu holen, was viel Zeit und Mühe kostete. Wenn meine Mutter sah, wie schwer ich mich tat, ließ sie oft ihre landwirtschaftliche Arbeit liegen, um mir zu helfen, eine Ladung Wasser in die Schule zu bringen.
Meine Mutter war damals in ihren Dreißigern, ihr langer Zopf reichte bis zur Taille. Sie erledigte praktisch alle Feldarbeiten, weil mein Vater, der ein staatlicher Lehrer war, erst in einem anderen fernen Dorf unterrichtete und später in unser Dorf versetzt wurde. Da er sehr beschäftigt war, konnte er meiner Mutter nur teilweise bei den Feldarbeiten helfen. Wir waren recht arm und hatten keine Uhr, um die Zeit genau zu bestimmen. Im Winter, als es noch dunkel war, weckte mich meine Mutter oft und drückte mir eine Frühstückstüte in die Hand, bevor sie mich zur Schule schickte. Nachdem ich gegangen war, dauerte es noch lange, bis es hell wurde, und meine Mutter machte sich Sorgen, ob ich zu früh losgegangen war und ob es auf dem Weg gefährlich sein könnte. Einmal hatte ich eine Erkältung und musste abends zu einem Arzt, um eine Spritze zu bekommen. Aufgrund mehrerer Injektionen war mein Gesäß geschwollen und es fiel mir schwer, zu gehen, also trug meine Mutter mich auf ihrem Rücken nach Hause. An einer schmalen Brücke hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren, aber sie konnte sich rechtzeitig fangen und brachte uns sicher über die Brücke.
Ich hatte große Angst zur Schule zu gehen, aber nicht wegen des Lernens, sondern wegen der bösen Hunde auf dem Weg. Es gab zwei Wege zur Schule: Auf der oberen Strecke gab es an einer Kurve eine ganze Horde von Hunden, die oft auf der Straße herumtollten, und in der Nähe der Schule hielten mehrere Haushalte Hunde. Jedes Mal, wenn ich vorbeikam, schlich ich auf Zehenspitzen und ging vorsichtig, aus Angst, die Hunde könnten herausstürmen und mir den Weg versperren. Auf dem unteren Weg gab es weniger Hunde, und sie schienen freundlicher und bellten nicht so oft. Doch auf einem Abschnitt war ein Obstgarten, und wenn es dunkel wurde, funkelte es bedrohlich aus den Bäumen, als ob unsichtbare Augen dich beobachten würden. Das ließ einem das Blut in den Adern gefrieren.
Auf dem Land wohnen die Menschen sehr eng beieinander, man hört das Krähen der Hähne und das Gebell der Hunde, und aus den Küchen dringt das Klappern von Töpfen und Pfannen. Bis ich zehn Jahre alt war, lebten wir in einem traditionellen Hof, in dem mehrere Familien aus demselben Clan lebten. Jede Familie hielt viele Hühner, die gemeinsam im Hof nach Futter pickten und auf den Dächern in der Sonne badeten. Wenn es dunkel wurde, kehrten die Hühner in ihre eigenen Ställe zurück, um zu schlafen. Am nächsten Morgen, kurz bevor es richtig hell wurde, krähte plötzlich ein Hahn lautstark, und die anderen Hühner folgten ihm nach. Dieser Hahn war wie der König des Hühnerreichs, der das Signal zum Krähen gab, und die anderen Hühner respektierten ihn. Doch er war ziemlich arrogant und schaute die Menschen immer mit einem feindseligen Blick an. Meine Schwestern und ich hatten Angst vor ihm, weil er manchmal plötzlich vor uns auftauchte, mit den Flügeln schlug und uns aggressiv angriff.
Meine Mutter sah das und machte sich Sorgen, dass der Hahn uns verletzen könnte, besonders wenn er unsere Augen treffen würde. Also bat sie den Besitzer des Hahns, der zufällig unsere Großtante war, das Huhn zu schlachten, um Unfälle zu vermeiden. Unsere Großtante wollte nicht, weil sie den Hahn mochte, aber nach mehrmaligem Bitten gab sie schließlich nach, und der Hahn endete auf dem Tisch.
Am nächsten Tag krähte kein Hahn, als ob die anderen Hühner trauerten. Aber wir Kinder freuten uns, weil wir wieder ungestört herumtollen konnten, und auch meine Mutter konnte endlich entspannt durchatmen. Doch ein paar Tage später fing wieder ein junger Hahn an zu krähen, und dieser Hahn war nicht nur laut, sondern auch noch aggressiver als der vorherige. Er attackierte uns Kinder noch heftiger.
Meine Mutter runzelte wieder die Stirn und ging erneut zu unserer Großtante, um sie zu bitten, auch diesen Hahn zu schlachten. Doch unsere Großtante lehnte diesmal ab und meinte, der Hahn sei noch zu jung und müsste erst ausgewachsen sein. Meine Mutter machte sich Sorgen, konnte aber nichts tun. Als der Hahn mich wieder attackierte, war meine Mutter so wütend, dass sie einen Besen nahm und den Hahn verscheuchte. Unsere Großtante war nicht glücklich darüber, denn selbst Hunde darf man nur im Beisein ihrer Besitzer bestrafen, geschweige denn Hühner.
Eines Tages war meine Mutter in der Küche beschäftigt, als sie plötzlich Schreie aus dem Hof hörte. Sie dachte, jemand sei verletzt worden, und rannte hinaus, nur um festzustellen, dass niemand im Hof war. Der Lärm kam aus dem Hinterhof, und als sie dort ankam, sah sie, wie mein kleiner Onkel auf der Veranda stand und der Hahn auf seinem Kopf saß, ihn ständig am Kopf pickend. Vermutlich hatte mein Onkel Angst, den Hahn mit den Händen zu schlagen, also schüttelte er nur den Kopf, um ihn loszuwerden. Die Großtante war ebenfalls dort und eilte hin, um den Hahn am Hals zu packen und ihn herunterzuziehen. Zum Glück hatte der Hahn nicht die Augen meines kleinen Onkels erwischt. Die Großtante schlachtete den Hahn noch am selben Tag. Ab da wurde jedes Mal, wenn ein Hahn aggressiv wurde, sofort geschlachtet, und wir Kinder waren darüber sehr glücklich.
Teil 2
Meine Mutter hatte von meinem Großvater eine robuste Konstitution geerbt und war eine geborene Athletin. Während ihrer Schulzeit zeichnete sie sich besonders in Diskus- und Kugelstoßen aus. Einmal kam ein Team von der Provinzsportschule, um Talente zu sichten, und sie wollten meine Mutter direkt aufnehmen, um sie professionell auszubilden. Meine Mutter wusste nicht, was sie tun sollte, also besuchten die Lehrer die Familie, um mit meinem Großvater und meiner Großmutter darüber zu sprechen. Meine Großmutter war sofort dagegen, weil sie dachte, dass das Leben in einer Sportschule zu hart wäre und meine Mutter leiden würde. Sie wollte, dass meine Mutter wie ein normales Mädchen lebte und nach der Schule in ein nahegelegenes Dorf heiratete, um ein einfaches Leben zu führen. Die Lehrer versuchten mehrmals, meine Großmutter zu überzeugen, aber sie blieb hartnäckig und schließlich gaben sie auf.
Doch der Traum meiner Mutter von einer sportlichen Karriere lebte weiter. Sie spielte im Schul-Basketballteam und war die Kapitänin des Mädchenteams, oft rannte sie über den Trainingsplatz oder nahm an Wettkämpfen teil. Meine Mutter war körperlich sehr fit und fand Freude und Stärke im Wettkampf. Das Schul-Basketballteam hatte bald Erfolg und wurde im ganzen Landkreis bekannt, später nahm es sogar an interregionalen Turnieren teil.
Als meine Mutter in der 11. Klasse war, begann die große Kulturrevolution. Lehrer wurden von den Rotgardisten gedemütigt und geschlagen, und die Menschen waren voller Angst und Unsicherheit. Meine Mutter war immer gut in Mathematik gewesen, und ihr Lieblingsmathelehrer wurde wiederholt kritisiert und erniedrigt. Kurz vor seinem Tod schenkte er meiner Mutter ein Schwarz-Weiß-Foto mit seiner Unterschrift und einer Widmung. Kurz darauf beging er Selbstmord.
Die revolutionäre Bewegung veränderte das Leben vieler Menschen radikal. Als meine Mutter die High School abschloss, gab es keine Universitäten, an denen sie sich bewerben konnte, also musste sie aufs Land zurückkehren und in der Landwirtschaft arbeiten. Meine Großmutter war der Meinung, dass meine Mutter alt genug war, um zu heiraten, also arrangierte sie die Hochzeit meiner Mutter mit meinem Vater. Meine Mutter träumte von der Liebe und verließ ihre Eltern, um in das weiter entfernte Dorf meines Vaters zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen.
Die großen Veränderungen forderten ihre Anpassungsfähigkeit. Meine Mutter musste sich in den neuen familiären Verhältnissen zurechtfinden und sich in das Dorfleben einfügen. Sie kümmerte sich um ihre Schwiegereltern und zog drei junge Schwager groß. Sie arbeitete mit den Dorfbewohnern zusammen, säte im Frühling, schnitt im Sommer das Getreide, erntete im Herbst die Früchte und sammelte im Winter Äste und Laub.
Im Dorf gab es einen Trocknungsplatz für Weizen, direkt neben dem Kindergarten und dem Altersheim. In der Freizeit saßen ältere Männer in einer sonnigen Ecke, mit eingezogenen Köpfen und laufenden Nasen, während sie plauderten oder Schach spielten. Die Kinder liefen und sprangen auf dem Platz herum. Einmal hatte der Kutscher des Dorfes ein Gewehr mit Sandkugeln mitgebracht und sich hinter einem Heuhaufen versteckt. Eine Gruppe Spatzen suchte auf dem Platz nach Nahrung, und plötzlich ertönte ein lauter Knall. Dutzende von Spatzen wurden getroffen. Die Erwachsenen stellten einen großen Kessel auf, kochten die Spatzen und die Kinder versammelten sich um den Topf und starrten die köstlichen Spatzen an.
Manchmal brachten Kinder einen Fußball mit, und alle spielten auf dem Platz. Plötzlich legte meine Mutter ihre Arbeit nieder, schnappte sich den Ball und begann, Basketball zu spielen. Die Dorfbewohner staunten, wie sie auf dem Trocknungsplatz dribbelte und den Ball ins Netz warf. Im Herbst lag der Duft von Obst in der Luft, und die Arbeiter ernteten fleißig Äpfel, Birnen und anderes Obst. Die Äpfel waren groß und rot, die Birnen golden und saftig, und sie wurden in Wagen zur Lagerung gebracht. Meine Mutter zog zusammen mit anderen Arbeitern einen Wagen vorbei, als ich gerade an der Strasse stand und sie sah. Sie nahm zwei oder drei Äpfel und steckte sie mir in die Tasche. Ich rannte nach Hause, um sie durch das Fenster in unsere Wohnung zu werfen, damit wir abends etwas zum Naschen hatten.
Unser Haus befand sich in der südwestlichen Ecke eines Innenhofes, es war nach Osten ausgerichtet. Da kaum Sonnenlicht hereinkam, war unser Zimmer dunkel. Meine Schwestern und ich saßen oft auf der Schwelle mit unseren metallenen Essschalen und aßen unser Abendessen. Oft aßen wir Maisbrei, und wenn es keine Beilagen gab, taten wir ein bisschen Essig und scharfe Chili-Sauce dazu, um es schmackhafter zu machen. Meine Mutter kochte den Maisbrei auf offenem Feuer, und weil das Feuer so heiß war, bildete sich am Boden des Topfes eine dünne Schicht verbrannter Kruste. Das war unser Nachtisch. Meine Mutter hob die Kruste ab und gab sie uns, und der knusprige, goldene Topfboden schmeckte wunderbar. Ich saß immer noch auf der Schwelle und kaute langsam an der Kruste. Die Hennen kamen herüber, um die heruntergefallenen Krümel zu picken. Eine der Hennen wurde ungeduldig, flog plötzlich auf meinen Teller und stahl sich ein Stück Kruste.
Wenn meine Eltern morgens zur Arbeit gingen, schlossen sie die Tür ab. Wenn meine Schwestern und ich von der Schule oder dem Kindergarten zurückkamen und vor verschlossener Tür standen, spielten wir einfach im Hof und machten Spiele mit anderen Kindern. An einem sonnigen Nachmittag, als wir spielten, hörten wir ein lautes Gegacker. Ich drehte mich um und sah, wie unsere Henne aufstand, mit dem Schwanz wackelte und stolz wegging. Sie hatte ein Ei gelegt. Ich lief hin, hob das noch warme Ei auf und rieb es vorsichtig an meiner Wange, bevor ich es vorsichtig in meine Tasche steckte, damit es nicht zerbrach.
Ich weiß nicht, wann meine Mutter zurückkam, aber als sie mich zum Abendessen rief, stellte sie fest, dass meine Tasche voll mit zerbrochenem Eiweiß und Eigelb war. Sie war wütend und bestrafte mich, indem sie mich im Hof stehen ließ. Ich stand unter dem Dach des östlichen Raumes und seufzte, während die Dämmerung langsam über das Dorf fiel. Mein Kopf war voller Gedanken, wie ich wieder ins warme Haus kommen könnte. Während ich in Gedanken war, kam ein Freund meines Vaters, und meine Eltern begrüßten ihn lächelnd. Das gab mir die Gelegenheit, ins Haus zu schlüpfen und mich ins Bett zu legen, ohne dass es jemand bemerkte.
Teil 3
Ein anderes Mal war ich krank und konnte nicht zur Schule gehen, also lag ich zu Hause auf dem Bett. Der Arzt kam vorbei, gab mir eine Spritze und verordnete Kräutermedizin. Meine Mutter kam oft zu mir und prüfte, ob ich Fieber hatte, flüsterte mir etwas zu und sprach beruhigend mit mir. Ich schlief oft ein, und ab und zu weckte sie mich, um mir eine Schale Medizin zu geben. In der Küche hörte ich das Klappern der Töpfe und Pfannen, und ich bekam langsam wieder Hunger. Nach einer Weile brachte mir meine Mutter Nudeln mit frischem Gemüse und feinem Fleisch. Sie hatte das nur für mich gemacht, aber ich hatte keinen großen Appetit und ließ die Stäbchen schnell fallen. Meine Mutter versuchte, mich zum Essen zu überreden, und meine Schwestern, die von der Schule zurückkamen, standen um das Bett herum und blickten gierig auf die Schale mit Nudeln. Sie waren neidisch, weil ich als Kranker so gutes Essen bekam, und das machte mich ein wenig hungrig, sodass ich weiteressen konnte.
Im Frühjahr ging meine Mutter zusammen mit den anderen Dorfbewohnern auf die Felder, um die Samen zu säen. Sie trug einen großen Kanister mit Ammoniaklösung auf dem Rücken und folgte der Saatmaschine. Der Kanister drückte schwer auf ihre Schultern, und der untere Rand rieb ständig an ihrer Hüfte. Nach einiger Zeit fühlte sie, wie es brannte, und dachte, dass vielleicht etwas nicht stimmte. Sie ging zum Teamleiter und bat ihn, es zu überprüfen, aber er schlug nur auf den Kanister und meinte, es sei alles in Ordnung. Meine Mutter biss die Zähne zusammen und arbeitete weiter, bis der Tag vorbei war.
Endlich war der Arbeitstag vorbei. Als sie nach Hause kam und sich umzog, stellte sie fest, dass ihre Hüfte an der linken Seite aufgescheuert war und das Ammoniak die Haut verletzte. Sie ging sofort zum örtlichen Arzt, um Hilfe zu bekommen, und der verschrieb ihr drei Monate Krankheitsurlaub. Aber auch während sie krank war, musste sie sich um die Familie kümmern, kochte weiter, wusch die Wäsche und flickte kaputte Kleidung.
Mit der Reform und Öffnung und der Einführung des Haushalts-Produktionssystems änderte sich das Dorfleben. Meine Mutter trug die Hauptverantwortung und arbeitete im Obstgarten, auf dem Feld und am Flussufer. Unser Haushalt kaufte viele neue landwirtschaftliche Geräte, und meine Mutter war ständig im Einsatz – vom Pflügen über die Aussaat bis hin zur Ernte und zum Spritzen von Pestiziden. Sie war überall und arbeitete in jeder Jahreszeit.
Eines Sommers, als die Wassermelonen auf der Sandinsel reif waren, mieteten meine Eltern einen Traktor, um eine ganze Ladung zu verkaufen. Sie zogen dicke Baumwollkleidung an und fuhren mit dem Traktor nachts zur Stadt, um am Frühmarkt zu verkaufen. Die Fahrt war holprig, und meine Eltern mussten sich am Rand des Traktors festhalten. Kurz bevor sie die Stadt erreichten, sprangen plötzlich drei Gestalten aus einem Busch auf die Straße und wollten sie anhalten. Mein Vater zögerte und bereitete sich darauf vor, anzuhalten, um sie anzusprechen. Doch meine Mutter erkannte die Gefahr und rief dem Fahrer zu, schneller zu fahren. Der Traktor beschleunigte, aber einer der Männer sprang auf den Anhänger und hielt sich an der Kante fest. Mein Vater drohte ihm mit einem Stock, konnte aber nicht zuschlagen. Meine Mutter kam zu Hilfe und griff die Hände des Mannes, bis er schließlich losließ und von der fahrenden Traktorenladung sprang.
Das Leben meiner Mutter war nie einfach, nie entspannt und voller Mühen und Anstrengung. Doch sie hielt immer durch und zeigte eine bemerkenswerte Stärke. Diese Stärke und Beharrlichkeit beeinflusste uns drei Geschwister stark und ließ uns früh erkennen, wie hart das Leben sein kann und wie wichtig es ist, sich durchzusetzen. Außer der Schule halfen wir oft bei der Feldarbeit. Als einziger Sohn und Ältester der Geschwister hatte ich mehr Verantwortung und musste oft mehr körperliche Arbeit leisten. Oft nahm ich meinen Schulranzen mit aufs Feld und arbeitete, bis es Zeit für die Schule war. Dann wusch ich mir schnell die Hände und lief zum Unterricht. Ich fühlte mich nicht gestresst oder überlastet, sondern war dankbar, dass meine Eltern nie zugelassen hatten, dass die Feldarbeit mein Studium beeinträchtigte. Die gesamte Planung und Organisation der Feldarbeit lag bei meinen Eltern, und ich half nur, wenn es nötig war.
Teil 4
Die Zeit verging, und meine Schwestern und ich wurden erwachsen. Doch meine Mutter begann schlechter zu sehen, ihre Haare wurden grau und sie ging langsamer. Ich lebte seit vielen Jahren in Deutschland, und die Gelegenheiten, meine Mutter zu sehen, wurden immer seltener. Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, ging sie nah an mein Gesicht, um mich genau anzusehen. Jedes Mal war sie traurig, weil wir uns kurz trafen und dann schon wieder Abschied nehmen mussten.
Liebe Mutter, sieh genau hin, genieße es und erinnere dich an das Gesicht deines Sohnes, an seine Augen, seine Nase, seinen Mund, damit du ihn vor deinem inneren Auge sehen kannst, wenn du ihn vermisst.
Liebe Mutter, sieh genau hin und spüre die Liebe in meinem Herzen, damit du die Wärme spürst, wenn du mich vermisst.
Liebe Mutter, sieh genau hin und erkenne die Melancholie und Trauer in meinem Herzen, damit du weißt, dass auch ich dich vermisse.
Liebe Mutter, schimpfe mich, weil ich nicht in der Nähe bin, um dich zu pflegen. Ich bin nicht da, um dich zu unterstützen. Frage nicht, warum wir uns immer trennen müssen und warum das Schicksal uns immer voneinander trennt. Seufze nicht über die Härte des Lebens und die Unbarmherzigkeit der Zeit. Denn das Leben ist eine Reise, und das Ende der Reise ist der Himmel, wo wir uns nie wieder trennen müssen.
Liebe Mutter, ich danke dir, denn du hast mich mit süßer Milch genährt und mich mit strenger Anleitung erzogen. Im Frühling hast du mir das Singen beigebracht, im Sommer hast du mit mir gespielt, im Herbst hast du mir Freude geschenkt, und im Winter hast du mich stark gemacht. Als meine Flügel schließlich stark genug waren, hast du mich mit sanften Händen freigelassen und mit liebevollem Blick verabschiedet.
Liebe Mutter, deine Liebe erfüllt mein Herz mit Tränen und Emotionen. Dein Schmerz lässt mich nicht schlafen, und jede Sekunde fühle ich deine Anwesenheit. Dein Atem ist mit meinem Atem verbunden, denn du hast mir das gelbe Gesicht gegeben und das chinesische Blut in meinen Adern. Nein, nicht nur ich, auch meine Kinder, mein Sohn und meine Tochter, wir sind alle deine treuen Kinder, Generation um Generation.
(Mai 2015, alle Rechte vorbehalten vom Autor)